„Herr
Doktor, der Simulant in Zimmer 7 ist gestorben.“
„Jetzt
übertreibt er aber!“
Als
Patient mit Multipler Sklerose bin ich lahm, aber nicht gelähmt. Ich nehme den Rollstuhl, weil Entfernungen über Zimmerabstände hinaus
sehr ermüdend sind, wenn ich Stock oder Krücken benutze.
Sonntag
Nachmittag, unterwegs mit der Mannschaft vom Schachklub. Wir kommen
an, laden den Rolli aus, ich fahre zum Haus, in dem wir spielen
sollen. Eine alte Schule, der dortige Schachklub hat seine Räume im
ersten Stock. Ich stehe auf, klappe den Rolli zusammen, trage ihn die
Treppe hoch, klappe ihn auseinander und fahre weiter.
Komische
Blicke.
An
der Bushaltestelle. Ich sitze im Rolli, der Bus kommt, ich stehe auf,
klappe den Rolli zusammen, steige in den Bus, klappe ihn auseinander
und setze mich wieder.
Komische
Blicke.
Vielleicht
liegt es am Fernsehen, an Sendungen wie „Verstehen Sie Spaß?“,
daß ein Behinderter im Rollstuhl nicht so richtig ernst genommen
wird, wenn er nicht völlig hilflos ist. Dabei geht es mir wie einem
Gewichtheber, der mir größter Anstrengung die 200-Kilo-Hantel
stemmt und sie dann gleich wieder fallen läßt. Niemand kommt auf
die Idee, er könnte damit den ganzen Tag herumspazieren.
„War
Jörg gestern Abend hier in der Kneipe?“ „Ja“ „War ich
dabei?“
An
manchen Tagen humpelt das Gehirn. Die Konzentration reißt immer
wieder ab, ob ich einen Satz formuliere, eine Variante beim Schach
berechne oder eine Melodie von einer CD nachspiele, spätestens beim
dritten Schritt ist der erste wieder weg, der Kopf wie mit Watte
ausgestopft, fast alle Menschen und Gegenstände heißen „Dings“.
Dabei läuft der tägliche Trott in gewohnten Bahnen, um normal zu
erscheinen, braucht es wirklich nicht viel Verstand. Nur die
Vergeßlichkeit fällt auf und der Umwelt auf die Nerven.
„Hier
stehe ich, ich kann nicht anders.“ (Martin Luther)
„Es
gibt kaum ein Problem, das durch Untätigkeit nicht größer wird.“
Wenn
mir alles zuviel wird, schließe ich die Augen und stelle mir vor,
ich würde als kleines Gespenst in meinem Schädel wie in einer
großen Kuppel schweben. (Mein Sohn meinte dazu, für einen Hohlkopf,
den man mir immer wieder mal unterstellt, sei das eine leichte Übung.
Er hat recht.) So kann ich stundenlang Musik hören, ganz tief und
transparent, am liebsten moderne E-Musik, von Schönberg bis
Stockhausen. Oder ich mache ganz dicht, höre auf meine eigene Musik
im Kopf und betrachte leuchtende geometrische Gebilde, die durch die
Kuppel schweben, letzteres ist durch Zahlenmeditation entstanden.
Tauche
ich wieder auf, bin ich unfähig, etwas zu tun, ein Käfer im
Bernstein.
„Wem
soll ich denn meine privaten Alpträume erzählen, wenn nicht dir?“
„Sie sollen privat bleiben, Du weißt gut, daß ich das nicht
vertrage.“
(Samuel
Beckett/ Warten auf Godot)