Montag, 13. August 2012

ABSCHIED (für Dimitri Gawlita)

Mein Schwiegervater starb überraschend. In der zweiten Nacht wurde mir klar, er war nicht nur der Vater meiner Frau, wir waren Freunde. Vor über zwanzig Jahren hatte er, der etablierte Anwalt, mich, den freischaffenden, dabei mäßig erfolgreichen Musikanten, in seiner Familie willkommen geheißen. Bei Familientreffen und -festen wurden wir nebeneinander gesetzt, die drei Mädels, Mutter und zwei Töchter, genossen die dadurch geschaffenen Freiräume. Wenn wir US-Amerikaner wären, hätte er in Washington gelebt und ich in San Franzisko, beide mit der Sehnsucht, Holzfäller in den Rocky Mountains zu sein, mit kariertem Hemd und Whiskyflasche in der Jackentasche, nach der Arbeit ein Teller Bohnen und dann Füße auf den Tisch. Richtige Männer, frei von Selbstzweifeln. Im Saarland blieb uns die Liebe zur großen und kleinen Eisenbahn, mit den Jahren kamen eine ganze Menge gemeinsamer Erlebnisse zusammen. Er stand in der Robe vor Gericht und leger in der Kanzlei, ich im Anzug auf der Bühne mit der Showband und in Jeans im Jazzkeller. (Je besser die Musik, desto schäbiger die Klamotten, gelegentliche Einsätze in Theater und Orchester ausgenommen, der Kapellmeister will ja nicht mit der Kneifzange dirigieren.) Er hat viele meiner Auftritte besucht und mir aus seinem Berufsleben erzählt.
Und er hatte an seinem Enkel so viel Spaß wie ich an meinem Sohn. Da es sich um dieselbe
Person handelt, war eine neue Gemeinsamkeit vorhanden. Er sorgte dafür, daß im Bücherregal neben Harry Potter auch Eulenspiegel, Münchhausen, die Schildbürger und Odysseus stehen, ich kümmerte mich um Mau-Mau, Mensch-ärgere-dich-nicht, Monopoly und Schach. Und immer wieder mal hatten wir Muskelkater im Genick vom Kopfschütteln über den jeweils anderen: Wozu braucht der Mensch drei Autos, wenn er nur einen Hintern hat, der bequem von A nach B befördert werden soll; wozu braucht der Mensch vier Altsaxophone, wenn er nur einen Mund zum Tuten hat. Wo das Verstehen nicht mehr ausreicht, behilft man sich mit Toleranz. Zwei Wochen zuvor saßen wir nach seinem Geburtstagsessen auf einem Mäuerchen vor dem Lokal, ich legte meinen Arm um seine Schulter und wir lächelten uns verschmitzt an. Das war unsere letzte Begegnung.

1 Kommentar:

  1. Dein Text spricht für sich selbst! Deshalb ist ein Kommentar nicht nötig!

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