Dienstag, 2. April 2013

Der Schein trügt

Herr Doktor, der Simulant in Zimmer 7 ist gestorben.“
Jetzt übertreibt er aber!“

Als Patient mit Multipler Sklerose bin ich lahm, aber nicht gelähmt. Ich nehme den Rollstuhl, weil Entfernungen über Zimmerabstände hinaus sehr ermüdend sind, wenn ich Stock oder Krücken benutze.
Sonntag Nachmittag, unterwegs mit der Mannschaft vom Schachklub. Wir kommen an, laden den Rolli aus, ich fahre zum Haus, in dem wir spielen sollen. Eine alte Schule, der dortige Schachklub hat seine Räume im ersten Stock. Ich stehe auf, klappe den Rolli zusammen, trage ihn die Treppe hoch, klappe ihn auseinander und fahre weiter.
Komische Blicke.
An der Bushaltestelle. Ich sitze im Rolli, der Bus kommt, ich stehe auf, klappe den Rolli zusammen, steige in den Bus, klappe ihn auseinander und setze mich wieder.
Komische Blicke.
Vielleicht liegt es am Fernsehen, an Sendungen wie „Verstehen Sie Spaß?“, daß ein Behinderter im Rollstuhl nicht so richtig ernst genommen wird, wenn er nicht völlig hilflos ist. Dabei geht es mir wie einem Gewichtheber, der mir größter Anstrengung die 200-Kilo-Hantel stemmt und sie dann gleich wieder fallen läßt. Niemand kommt auf die Idee, er könnte damit den ganzen Tag herumspazieren.

War Jörg gestern Abend hier in der Kneipe?“ „Ja“ „War ich dabei?“

An manchen Tagen humpelt das Gehirn. Die Konzentration reißt immer wieder ab, ob ich einen Satz formuliere, eine Variante beim Schach berechne oder eine Melodie von einer CD nachspiele, spätestens beim dritten Schritt ist der erste wieder weg, der Kopf wie mit Watte ausgestopft, fast alle Menschen und Gegenstände heißen „Dings“. Dabei läuft der tägliche Trott in gewohnten Bahnen, um normal zu erscheinen, braucht es wirklich nicht viel Verstand. Nur die Vergeßlichkeit fällt auf und der Umwelt auf die Nerven.

Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ (Martin Luther)
Es gibt kaum ein Problem, das durch Untätigkeit nicht größer wird.“

Wenn mir alles zuviel wird, schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich würde als kleines Gespenst in meinem Schädel wie in einer großen Kuppel schweben. (Mein Sohn meinte dazu, für einen Hohlkopf, den man mir immer wieder mal unterstellt, sei das eine leichte Übung. Er hat recht.) So kann ich stundenlang Musik hören, ganz tief und transparent, am liebsten moderne E-Musik, von Schönberg bis Stockhausen. Oder ich mache ganz dicht, höre auf meine eigene Musik im Kopf und betrachte leuchtende geometrische Gebilde, die durch die Kuppel schweben, letzteres ist durch Zahlenmeditation entstanden.
Tauche ich wieder auf, bin ich unfähig, etwas zu tun, ein Käfer im Bernstein.

Wem soll ich denn meine privaten Alpträume erzählen, wenn nicht dir?“ „Sie sollen privat bleiben, Du weißt gut, daß ich das nicht vertrage.“
(Samuel Beckett/ Warten auf Godot)

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